Die Stachelkugel


Ab dem späten 19. Jahrhundert gehen Sammler:innen in Tirol auf die Suche nach interessanten volkskundlichen Objekten 

Dabei findet sich auch ein Objekt, das eine Gebärmutter darstellen soll. In Wallfahrtskapellen werden solche Stachelkugeln der Muttergottes dargebracht 

Frauen mit unerklärlichen Leibschmerzen oder unerfülltem Kinderwunsch lassen sie anfertigen, um himmlische Hilfe zu erbitten 

Die Stachelkugel erlaubt der jungen Wissenschaft „Volkskunde“, in die heiße Diskussion über das Modethema „Hysterie“ einzusteigen 

Objektdaten
Ereignis:

Herstellung: Anfang 20. Jh.
Eingang Museum: 1906 von Karl Wohlgemuth

Herkunft:

Europa/Italien/Südtirol/Pustertal/Vintl

Material:

Holz, Metall, rote Farbe

Hersteller:in:

Nicht dokumentiert

Grösse:

L 24 cm B 12 cm T 12 cm

Inventarnummer:

79:06

Mit der Drahtöse konnte man die Stachelkugel an eine Marienfigur oder einen Altar hängen
Fürbitte mit Stachelkugel

Die Holzkugel, rot lackiert, mit eingeleimten, langen Stacheln und einer Drahtöse zum Aufhängen, kam nur in Tirol vor. Sie diente als Votivgabe, also ein Opfer, das mit einer Bitte oder einem Dank verbunden war. In Tirol trug sie auch den Namen „Mutterkugel“ oder „Bärmutter“. Die Gebärmutter, griechisch hystéra, war über Jahrhunderte für die männlich geprägte Medizin ein Organ, dem böse und teuflische Eigenschaften zugeschrieben wurden.  

Seit der Antike gingen Gelehrte wie Hippokrates, Paracelsus, Galenos und Leonardo da Vinci davon aus, dass die Gebärmutter, wenn sie nicht regelmäßig mit männlichem Samen gefüttert werde, im Körper bis ins Herz und Gehirn suchend umherschweife und dort durch Stechen oder Beißen Schmerzen erzeuge. Daher rührten, so glaubte man zu verstehen, das „hysterische“, überspannte Verhalten von Frauen und auch das Bild der Stacheln. 


Eine Stachelkugel aus Holz mit Band zum Aufhängen, MARKK Inv.Nr. 1328:05

Um 1900 wurde die Psychoanalyse entwickelt und suchte die Ursachen für die angebliche Frauenkrankheit „Hysterie“ nun im Unbewussten. Veranstaltungen und Diskussionen zu dem Thema erreichten eine breite Öffentlichkeit. Weiterhin dominierten Männer die Diskussion um das weibliche Organ. Die ebenfalls gerade entstehende Volkskunde machte sich währenddessen zur Aufgabe, „regionale“ und „ursprüngliche“ Glaubensdinge zu sammeln und für die Nachwelt zu bewahren.

Augenvotiv als Dank oder Bitte für die Heilung von Augenkrankheiten, MARKK Inv. Nr. 213:06

So wanderten die Stachelkugeln und andere Votivgaben, die im Gegensatz zur Gebärmutter meist auf den ersten Blick als menschliche Körperteile zu identifizieren sind, von den Wallfahrtsorten in örtliche Museen und wurden zu Ausstellungsgegenständen. Wissenschaftler:innen beforschten sie u.a. als „prähistorisch“ und „abergläubisch“, Tourist:innen sollten sie als “typisch“ für die jeweilige Region erkennen. Zur selben Zeit endete die Verwendung von Stachelkugeln im Leben der Tiroler:innen. Votivbilder und -gegenstände werden aber bis heute in aller Welt genutzt und sind in unterschiedlichsten Gotteshäusern und auch außerhalb zu sehen. Weiterhin wird mit ihnen für Rettung und Heilung gebeten oder gedankt. 


Votivnase, MARKK Inv. Nr. 83:06

Das MARKK erwarb die „Mutterkugel“ 1906 zusammen mit anderen Objekten aus Tirol vom Bozener Sammler Karl Wohlgemuth unter dem damaligen Museumsdirektor Georg Thilenius, der alle Volkskulturen – auch die europäischen – erforschen wollte. An diesem speziellen Objekt lassen sich die verschiedenen Betrachtungsweisen von Psychoanalyse, Volkskunde und Tourismus gemeinsam ablesen, die fast zeitgleich aufkamen und unsere Sicht auf die Welt grundlegend veränderten. 



  • Landkarte Teaser: "Fundorte der Votivgaben", aus: Rudolf Kriss: Das Gebärmuttervotiv. Ein Beitrag zur Volkskunde nebst einer Einleitung über Arten und Bedeutung der deutschen Opfergebräuche der Gegenwart, Augsburg 1929
  • Objektabbildungen: © MARKK, Fotos: Paul Schimweg
  • Literatur: Hamburg und Tirol. Eine Alpenfreundschaft? Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im MARKK 2023; Elisabeth Timm: Die Ästhetik der Hysterie zwischen Ritual und Realie, ca. 1900. Kulturanthropologie und Wissensgeschichte einer Votivgabe, in: Anthropologie und Ästhetik, hrsg. v. Britta Hermann, Paderborn 2018, S. 55-95, https://doi.org/10.30965/9783846759660_004; Elinor Cleghorn: Die kranke Frau. Wie Sexismus, Mythen und Fehldiagnosen die Medizin bis heute beeinflussen, Köln 2022; Richard Andree: Votive und Weihegaben des katholischen Volks in Süddeutschland. Ein Beitrag zur Volkskunde, Braunschweig 1904
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