Gut geschützt haben die Glasnegative problemlos über einhundert Jahre in ausgezeichnetem Zustand überdauert
Der lange Weg nach Hamburg
Verblasste Aufschriften zeigen, dass die Holzkiste Alfred Leber (1881-1954) gehörte. Aus der Forschung wissen wir, wer das war: ein deutscher Augenarzt und Tropenmediziner, der 1913/14 die "Medizinisch-demographische Deutsch-Neuguinea Expedition" des Reichskolonialamtes geleitet hatte. Dass der Inhalt der Kiste aus der Kolonialzeit stammt, wird also schnell klar. Ebenfalls nachzulesen ist, dass der berühmte Expressionist Emil Nolde (1867-1956) und seine Frau Ada Nolde als nicht offizielle Mitglieder die Expedition begleiteten. Per Zug und Schiff reisten die Teilnehmer:innen von Berlin über Ostasien auf verschiedene Inseln in Ozeanien, damals deutsche Kolonien.
Die Kiste wird im Museum archiviert, erhält eine Inventarnummer, und die Bilder werden einzeln überprüft: Welche Menschen sind darauf zu sehen, welche Bauten? Welche Szenen und Elemente des Alltagslebens wie Kleidung oder auch Essen? Aus vielen Einzelheiten und aus bekannten Fakten zu der Expedition sind Rückschlüsse möglich. Zuletzt steht fest: die Aufnahmen stammen aus verschiedenen Zeiten (1913-1922) im Leben von Alfred Leber und von verschiedenen Orten, darunter die Insel Manus auf Papua Neuguinea. Tatsächlich zeigen bekannte Kunstwerke von Emil Nolde Szenen von Manus als romantischen "Südsee"-Mythos. In den frühen 1920er Jahren brachte Leber die Kiste zu einer befreundeten Familie nach Hamburg, deren Angehörige sie schließlich Mitte der 1980er Jahre im Museum abgaben.
Der Begriff "Südsee" bezeichnet räumlich nicht klar umrissene, exotische und häufig auch als "paradiesisch" bezeichnete Gegenden. Paradox, dass er gerade für Orte verwendet wurde (und wird), in denen Europäer:innen imperiale Gewalt ausübten. Die Fotografien stellen eine wichtige Gegenrede zu den idealisierenden Kunstwerken dar. Sie erzählen vom kolonialen und laut Berichten häufig rücksichtslosen Wirken der Teilnehmer:innen vor Ort, um die Ziele der Expedition zu erfüllen.
Auf den Fotografien ist zu sehen, wie die medizinischen Untersuchungen durchgeführt wurden, um die kolonialen Ausbeutungsmöglichkeiten im Gebiet zu steigern. Sie zeigen die kolonialen Infrastrukturen, in denen sich die Mediziner und das Ehepaar Nolde fast ein Jahr lang bewegten und von denen sie profitierten.
Inzwischen werden die kolonial geprägten Bildkompositionen von Emil Nolde - wie auch die anderer Künstler:innen dieser Zeit - in Forschungen und Ausstellungen kritisch hinterfragt. Auch für unser Museum ist es eine Herausforderung, die Fotografien von Alfred Leber zugänglich zu machen, also eine historische Wahrheit ungeschönt zu zeigen, ohne dabei Stereotype aus der Zeit wiederzugeben.
Weiterhin unbeantwortet bleibt, wer die nicht-europäischen Personen auf den Fotografien sind? Kennt jemand ihre Namen?
Landkarte (bearbeitet): Maximilian Dörrbecker (Chumwa), CC BY-SA 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29780030, Reiseroute nach Manfred Reuther (Hrsg.): Emil Nolde - Die Südseereise, Dumont, Köln 2008
Literatur: Rainald Schmieg, "Alfred Leber: Begründer der deutschen Tropenophtalmologie", Düsseldorf 1992; Dorthe Agesen, Anna Vestergaard JØrgensen, Beatrice von Bormann, "Kirchner und Nolde, Expressionismus. Kolonialismus", Hirmer, München 2021
Dank an den Schenker der Kiste und seine Familie, die nicht genannt werden möchten, sowie an Christoph Schmidt / Lachslounge, Jeanette Kokott, Jamie Dau, Diana Gabler, Jan Neidhardt, Anahita Sadri Khanloo und Carl Kühl
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