Holzkiste und Fotografien aus Ozeanien


Diese Kiste gilt über einhundert Jahre lang als verschollen. Im April 2021 wird sie im Depot unseres Museums aufgefunden

In der Holzwolle liegen Glasnegative aus der Zeit um 1913. Auf einer der Fotografien: der Maler Emil Nolde und seine Frau Ada Nolde

Die Fotografie des Künstlerpaares ist vermutlich auf der Insel Manus in Papua Neuguinea aufgenommen worden 


Ein solcher Fund ist wie ein Meteorit, aus dem tausend Fragen auf das Museum niederprasseln. Zunächst natürlich: Wer war die Besitzer:in dieser Kiste?


Objektdaten
Ereignis:

Herstellung: zwischen 1913 und 1922. Eingang Museum: um 1985 durch Schenkung

Herkunft:

Bildaufnahmen: Russland, Japan, Korea, China, Indonesien, Papua-Neuguinea

Material:

Holz, Eisen, Zinkblech, Walzblei, Holzwolle, Papier, Karton, Silberring mit Schmuckstein, Silbergelatine-Glasnegative, Nitrocellulose-Negative

Grösse:

B 50,5 cm, H 26,5 cm, T 34 cm

Inventarnummer:

2022.68:1

Gut geschützt haben die Glasnegative problemlos über einhundert Jahre in ausgezeichnetem Zustand überdauert

Der lange Weg nach Hamburg

Verblasste Aufschriften zeigen, dass die Holzkiste Alfred Leber (1881-1954) gehörte. Aus der Forschung wissen wir, wer das war: ein deutscher Augenarzt und Tropenmediziner, der 1913/14 die "Medizinisch-demographische Deutsch-Neuguinea Expedition" des Reichskolonialamtes geleitet hatte. Dass der Inhalt der Kiste aus der Kolonialzeit stammt, wird also schnell klar. Ebenfalls nachzulesen ist, dass der berühmte Expressionist Emil Nolde (1867-1956) und seine Frau Ada Nolde als nicht offizielle Mitglieder die Expedition begleiteten. Per Zug und Schiff reisten die Teilnehmer:innen von Berlin über Ostasien auf verschiedene Inseln in Ozeanien, damals deutsche Kolonien. 

Die Reiseroute der Expeditionsteilnehmer:innen bei der Durchquerung der Insel Manus


Die Kiste wird im Museum archiviert, erhält eine Inventarnummer, und die Bilder werden einzeln überprüft: Welche Menschen sind darauf zu sehen, welche Bauten? Welche Szenen und Elemente des Alltagslebens wie Kleidung oder auch Essen? Aus vielen Einzelheiten und aus bekannten Fakten zu der Expedition sind Rückschlüsse möglich. Zuletzt steht fest: die Aufnahmen stammen aus verschiedenen Zeiten (1913-1922) im Leben von Alfred Leber und von verschiedenen Orten, darunter die Insel Manus auf Papua Neuguinea. Tatsächlich zeigen bekannte Kunstwerke von Emil Nolde Szenen von Manus als romantischen "Südsee"-Mythos. In den frühen 1920er Jahren brachte Leber die Kiste zu einer befreundeten Familie nach Hamburg, deren Angehörige sie schließlich Mitte der 1980er Jahre im Museum abgaben.  

Der Begriff "Südsee" bezeichnet räumlich nicht klar umrissene, exotische und häufig auch als "paradiesisch" bezeichnete Gegenden. Paradox, dass er gerade für Orte verwendet wurde (und wird), in denen Europäer:innen imperiale Gewalt ausübten. Die Fotografien stellen eine wichtige Gegenrede zu den idealisierenden Kunstwerken dar. Sie erzählen vom kolonialen und laut Berichten häufig rücksichtslosen Wirken der Teilnehmer:innen vor Ort, um die Ziele der Expedition zu erfüllen.


Der Kolonialarzt Ludwig Külz, im Bildhintergrund eine Plattenkamera. MARKK Inv. Nr. 2022.68:1_339


Auf den Fotografien ist zu sehen, wie die medizinischen Untersuchungen durchgeführt wurden, um die kolonialen Ausbeutungsmöglichkeiten im Gebiet zu steigern. Sie zeigen die kolonialen Infrastrukturen, in denen sich die Mediziner und das Ehepaar Nolde fast ein Jahr lang bewegten und von denen sie profitierten.

Emil und Ada Nolde (Mitte hinten) mit Begleitern am Strand. MARKK Inv. Nr. 2022.68:1_176

Das Aquarell von Emil Nolde von 1913/14 könnte den gleichen Jungen zeigen, der links im Vordergrund auf der Fotografie oben zu sehen ist


Inzwischen werden die kolonial geprägten Bildkompositionen von Emil Nolde - wie auch die anderer Künstler:innen dieser Zeit - in Forschungen und Ausstellungen kritisch hinterfragt. Auch für unser Museum ist es eine Herausforderung, die Fotografien von Alfred Leber zugänglich zu machen, also eine historische Wahrheit ungeschönt zu zeigen, ohne dabei Stereotype aus der Zeit wiederzugeben.

Weiterhin unbeantwortet bleibt, wer die nicht-europäischen Personen auf den Fotografien sind? Kennt jemand ihre Namen?


  • Landkarte (bearbeitet): Maximilian Dörrbecker (Chumwa), CC BY-SA 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29780030, Reiseroute nach Manfred Reuther (Hrsg.): Emil Nolde - Die Südseereise, Dumont, Köln 2008
  • Karte Durchquerung Manus, Karte von 1914, gezeichnet von E. Meyer: © Georg-August-Universität Göttingen
  • Junger Mann aus Papua-Neuguinea (mit rot-braunem Haar), Emil Nolde 1914, Aquarell und Tusche © Nolde Stiftung Seebüll
  • Historisches Foto: Emil und Ada Nolde, 1913, Archiv der Nolde Stiftung Seebüll © Nolde Stiftung Seebüll
  • Literatur: Rainald Schmieg, "Alfred Leber: Begründer der deutschen Tropenophtalmologie", Düsseldorf 1992; Dorthe Agesen, Anna Vestergaard JØrgensen, Beatrice von Bormann, "Kirchner und Nolde, Expressionismus. Kolonialismus", Hirmer, München 2021
  • Dank an den Schenker der Kiste und seine Familie, die nicht genannt werden möchten, sowie an Christoph Schmidt / Lachslounge, Jeanette Kokott, Jamie Dau, Diana Gabler, Jan Neidhardt, Anahita Sadri Khanloo und Carl Kühl
  • Texte: Ania Faas und Catharina Winzer
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