Kalaallit Sonnenbrille


Im Museum nach der Zukunft suchen? Dinge aus dem Alltag speichern nicht selten verlorenes Wissen und kluge Ideen.


Auf den baumlosen Inseln Grönlands werden seit Jahrhunderten Sonnen- oder Schneebrillen aus Holz angefertigt.


Es sind maßgeschneiderte Einzelstücke mit optimiertem Sehfeld und überlebenswichtigen Funktionen.

Auf der Jagd verhindern sie Schneeblindheit und erhöhen die Tiefenschärfe, ähnlich einer Kameralinse.

Objektdaten
Ereignis:

Herstellung: 19. Jahrhundert, Kalaallit
Eingang Museum: Ankauf 1912

Herkunft:

Upernivik, Grönland

Material:

Holz, Tierhaut

Hersteller:in:

nicht dokumentiert

Grösse:

L 21 cm B 16,1 cm T 3,6 cm

Inventarnummer:

MARKK 12.114:23

Tierhäute für die Brillenriemen stammen häufig von Karibu-Rentieren. 
Design und Alltag

Upernivik ist die viertgrößte Insel Grönlands, ein See liegt in der Mitte, das Land ist voller Gletscher und gebirgig, höchster Gipfel ist der Paalup Qaqqaa mit etwas über 2000 Metern. Hier entstand vor über einhundert Jahren diese Schneebrille, die aus Treibholz geschnitzt ist und ein Trageband aus Tierhaut hat. Ähnliche Modelle wurden von Inuit in arktischen Gebieten seit mindestens 800 Jahren getragen, auch von den grönländischen Kalaallit.



Oft besaß ein Jäger mehrere Brillen für unterschiedliche Zwecke. Die Schlitze waren manchmal einfach in der Mitte, teils wie Jalousien übereinander angeordnet, mit unterschiedlich breiten Sehfeldern und Winkeln. Die Augenpartie war dem Kopf des Trägers eng angepasst, so dass sie seitlich kein Licht hereinließ. Zusätzlich bestrich man die Innenseite und den Schlitz mit Ruß, um die Lichteinstrahlung möglichst klein zu halten.

Das Design der Brillen entstand aus einer schmerzhaften Erfahrung, die die Bewohner:innen der Arktis regelmäßig machen mussten. Denn die starke UV-Strahlung des vom Eis reflektierten Sonnenlichts führt zu Schneeblindheit, einer Verletzung des Auges. Sie fühlt sich an wie das Kratzen von Sand unterm Lid und zerstört die Retina. Meist heilt sie erst nach zwei bis drei Tagen durch das Nachwachsen der obersten Hornhautschichten.
Patrick H. Ray, ein Captain der US-Army, schrieb 1883 bei einem Besuch der Utqiaġvik-Region in Alaska:

„Der blendende Widerschein der Sonne auf dem Schnee greift das stärkste Auge an, und wir fanden einfach keine Lösung dafür. Wir hatten zwar unterschiedlichste Varianten von Sonnengläsern und Schneebrillen dabei, aber die von Einheimischen hergestellten und getragenen hölzernen Brillen schützten uns mindestens ebenso gut wie unsere eigenen, ausgeklügelten Brillen, und sie waren deutlich angenehmer zu tragen, weil die Feuchtigkeit von der Haut nicht so leicht auf ihnen gefror."


Auf der Jagd, zum Beispiel nach Robben, mussten Inuit und andere Arktisbewohner:innen eine Lösung finden, sich zu schützen – und dem Geruchs- und Orientierungssinn der Tiere immer einen Schritt voraus zu sein. Die schmalen Schlitze der Brillen bündeln deshalb ähnlich wie eine Kameralinse das Licht, so dass der Träger schärfer sehen konnte. 
Ob aus Holz, Knochen oder Tierhaut, Schneebrillen der Inuit gibt es in einer riesigen Vielfalt, häufig auch geschmückt mit Symbolen oder Ornamenten aus Sonnen, Bergen oder Augen, manche sogar mit passendem Etui.



Was für ihr Leben auf den weiten Ebenen aus Wasser und Eis gebraucht wurde, setzten die Menschen selbst in Design um, sie schnitzten, perforierten und ritzten die Materialien per Hand. Industrielle Fertigung gab es nicht. Das Wissen, wie Alltagsgegenstände optimiert werden konnten, entstand bei den Personen, die sie auch benutzten. Und aus dem direkten Kontakt mit der Natur, die sie ernährte und herausforderte. 
Grönland wurde wie die meisten arktischen Gebiete im Zuge der Suche nach Bodenschätzen und strategischen Stützpunkten kolonisiert. Das Foto zeigt Upernivik im 19. Jahrhundert. Damals kamen erste industrielle Produkte ins Land und verdrängten oft die handgefertigten Gegenstände. Plötzlich spielten Zeit und Geld eine Rolle. Die Natur wurde als Rohstofflager betrachtet, ausgebeutet und je nach Bedarf dieser Ausbeutung zurückgedrängt.

Heute bedroht oder vernichtet der Klimawandel mit steigenden Wasserpegeln große arktische Gebiete. Die Jagdsaison wird kürzer, Tierarten verschwinden, Wege sind nicht länger zugänglich. Menschen verlieren ihr Land und ihre Lebensgrundlagen.

Zugleich sind die Gemeinschaften im Besitz von riesigen Wissensvorräten über ihre Umwelt, angesammelt über Jahrhunderte. Welche Strategien und Designs haben sie entwickelt, die vielleicht zukünftig das Überleben von Menschen sichern werden? Welche Techniken leiteten sie aus der nahen Beobachtung der Natur ab, aus harten Lebensbedingungen und Krisen? Und aus den Überlieferungen ihrer Vorfahren, die wie sie mit dem Eis und mit dem Wasser lebten, statt dagegen?

Speere und Harpunen


Die Schneebrille gilt im Museum als „Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“, weil sie vor Ort von ausländischen Militärs, Händlern oder Reisenden entwendet, gekauft oder eingetauscht wurde. Das gilt auch für viele andere Alltagsgegenstände der Inuit im Depot, Werkzeuge zum Beispiel, Jagdgeräte, Kleidung oder Musikinstrumente.


Historische Gegenstände speichern Wissen, das möglicherweise anhand von Objekten zurückgeholt werden kann. Aber sie sind auch ein Hinweis auf eine höhere Wissensebene, die für Arktisbewohner selbstverständlich war, als sie diese Brillen schnitzten: Ein nachhaltiges Leben ohne Verschwendung.

Eine Schneebrille aus Kanada, hergestellt vor mindestens 100 Jahren
  • Zitat Patrick H. Ray: https://alaska.si.edu/record.asp?id=688
  • Foto Mann mit Schneebrille: Julian Idrobo from Winnipeg, Canada, CC BY-SA 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0>, via Wikimedia Commons
  • Foto Upernivik: LC-USZ62-138820, Upernivik, Greenland, July, 1881 / G.W. Rice photo. Photograph showing village during the Lady Franklin Bay Expedition. Library of Congress, Washington 
  • Literatur: „Eiszeiten. Die Menschen des Nordlichts“, Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Museum für Völkerkunde Hamburg, 2016; https://tiara013.wordpress.com/2019/05/27/gronland-und-der-danische-kolonialismus/
DE |