Vogelschauplan von Qingdao


Diese bunte und detailgenaue Karte von Qingdao dient nicht nur zur Orientierung


Ein chinesischer Künstler hat sie als Souvenir gezeichnet. Heute erinnert sie nur noch an einen imperialen Wunschtraum des deutschen Kaiserreichs


Napfkuchen, Germania-Bier und Fachwerkhäuser – um 1900 wollen deutsche Besatzer die ganze Provinz mit ihrer Kultur „durchtränken“


Doch die Mission Musterkolonie stößt auf Widerstand, nicht zuletzt durch die Yihetuan-Kämpfer und ihren „Boxeraufstand“


Objektdaten
Ereignis:

Herstellung: ca. 1900
Eingang Museum: Ankauf Museum von Herman Gerlof 1903

Herkunft:

China

Material:

Papier, Farben: Bariumsulfat, Zinkweiß, Ocker, Zinnober

Hersteller:in:

nicht dokumentiert

Grösse:

B 174 cm H 89,5 cm

Inventarnummer:

A 4375

Orte und Gebäude in der Karte sind mit einzeln aufgeklebten Papierschildchen beschriftet. 
Träume und Wirklichkeit in einer Musterkolonie

Die fast zwei Quadratmeter große Karte ist ein Vogelschauplan, der die Stadt Qingdao um 1900 zeigt. Molen, Leuchttürme, Schiffe, Kasernen und einzelne Häuser sind von schräg oben und in vielen Einzelheiten dargestellt. In Blau, Grün und Braun wurde auch die Landschaft in realistischen Farben nachgezeichnet. Doch die Gebäude an der Bucht des Gelben Meers sind auf Deutsch beschriftet: Prinz-Heinrich-Hotel, Filiale der Deutschen Bank, Kirche, Gefängnis. Die Straßen sind menschenleer, alles wirkt ordentlich und friedlich. So hätten sich die deutschen Besatzer die Stadt wohl gewünscht. Die Wirklichkeit sah anders aus.

Wie die meisten europäischen Vogelschaupläne zeigt auch dieser nur ausgewählte Orte und eine menschenleere Stadt
1897, als deutsche Marineschiffe im November siebenhundert Seeleute in der Bucht absetzten, war Qingdao ein Fischerdorf mit Lehmhütten, einem Tempel und einigen Militäranlagen. Kaiser Wilhelm II. hatte die chinesische Regierung erpresst, für das gesamte Gebiet Kiautschou einen Pachtvertrag über 99 Jahre abzuschließen. China besaß große Rohstoff- und Kohlevorräte und versprach, ein profitabler Markt für europäische Produkte zu werden.
Gleich nach der Unterzeichnung des Papiers legten die Deutschen los und verwandelten den Ort in eine riesige, lärmende Baustelle. Dampfer gingen vor Anker, Kräne schafften Material an Land.

Aus dem Fotoalbum von Peter Schmidt, einem Seemann auf der Ostasienreise des Panzerkreuzers "Fürst Bismarck" 1906-1908


Man baute Straßen, Eisenbahntrassen und ganze Stadtviertel. Straff organisiert und technisch auf dem neusten Stand, dazu modernste Infrastruktur, so stellten sich die Europäer ihre Musterkolonie an der chinesischen Küste vor. In den großzügigen Fachwerkhäusern ließ es sich gut leben. Mit deutschem Brot, deutschem Bier, religiöser Unterweisung und deutscher Bildung sollte das neue „Kulturzentrum in Fernost“ die ganze Welt in Erstaunen versetzen.

Bauarbeiten in der deutschen Kolonie Qingdao


Die Arbeiten an der „fantastischen Stadt“ ließ sich das Kaiserreich 200 Millionen Mark kosten. Koloniale Architektur, wie sie auch auf der Karte zu sehen ist, prägt noch immer Teile des Stadtbilds von Qingdao. Heute hat die Metropole 9 Millionen Einwohner:innen.

So sieht das moderne Qingdao aus


Reisende aus aller Welt besuchten und fotografierten die wachsende Metropole, kauften Souvenirs wie diese Karte, in der der Künstler chinesische Landschaftsmalerei und den Geschmack der Kundschaft zu verbinden wusste. Bei den Bewohner:innen waren die Besatzer mehr als unbeliebt.



Denn das koloniale Qingdao war streng nach rassistischen und ständischen Merkmalen aufgeteilt. Die Europäer:innen, wenige hundert Personen, lebten in Villen im Zentrum, getrennt von den Wohnvierteln der chinesischen Bevölkerung. Und weit weg von den Behausungen der einheimischen Arbeiter:innen. Für sie waren die Häuser mit Kanalisation und der Komfort moderner Wohnanlagen nicht vorgesehen. Sie hatten der „Chinesenordnung“ zu folgen, die mit willkürlichen Vorschriften zu Beleuchtung, Ausgangszeiten und Kleidung ihre Freiheit einschränkte. 

Die Proteste wurden lauter. Gegen die ungleiche Behandlung, gegen die Privilegien der Deutschen und ganz allgemein gegen ihr Verhalten. Der chinesische Journalist Zhu Qi, der in Qingdao eine Tageszeitung herausgab, schrieb 1908 in einem Leitartikel: „Die Deutschen sind Parvenüs, aufgeblasen und in ihrem Glanze sich sonnend und hochmütig gegen andere. Darum benehmen sie sich Chinesen gegenüber wie rohe Tyrannen.“



Auch gegen Missionare lehnten sich chinesische Widerstandsgruppen auf. Sie nannten sich Yihetuan oder auch Yihequan, also „Fäuste der Gerechtigkeit und Harmonie“. Von diesem Namen leitete sich der Name der Kampfbünde ab, die später für den „Boxeraufstand“ bekannt wurden. 

Die Kolonialherren reagierten mit sogenannten Strafexpeditionen und brannten ganze Dörfer nieder. Im Juni 1900 stellte Kaiser Wilhelm II. ein Korps zusammen, um als Teil einer "Allianzarmee von Acht Staaten" den chinesischen Widerstand niederzuschlagen. Angefeuert von der "Hunnenrede", die er bei der Entsendung in Bremerhaven gehalten hatte, fielen die deutschen Truppen durch besondere Grausamkeit gegenüber der Zivilbevölkerung auf. 


Ausschnitt aus dem Vogelschauplan


Aus dem Fotoalbum eines deutschen Seemanns, links unten das Gouvernementsgebäude














Mit dem 1. Weltkrieg zerschlugen sich die imperialen Pläne der Deutschen. Nach 17 Jahren wurden sie von japanischen Truppen vertrieben, ab 1922 gehörte das Gebiet wieder zu China. 



Im MARKK wurde der Vogelschauplan von Qingdao zuletzt 2021 in der Ausstellung „Farbe trifft Landkarte“ gezeigt. Dort waren auch weitere historische Karten aus dem Museumsarchiv zu sehen. Im Archiv zeugen mehrere Objekte von der deutschen Kolonialzeit in China, zum Beispiel private Fotos wie hier in der Story die des Grafikers Ivo Puhonny.


  • Vogelschaukarte der Stadt Qingdao, Inventarnummer A 4375
    Restauriert mit Mitteln der Rudolf-August Oetker-Stiftung
  • Karte Teaser: Peter Hermes Furian / Alamy Stock Foto 2K6P8WE
  • Fotoalbum aus der Sammlung Peter Schmidt, Album 1, Inventarnummer 2008.12:1
  • Sammlung Puhonny Fotoalbum 5 Karton 10 China, Inventarnummer 88.68:34 ff.
  • Zitat Journalist Zhu Qi: Mechthild Leutner (Hg.): Musterkolonie Kiautschou. Die Expansion des Deutschen Reiches in China. Deutsch-chinesische Beziehungen 1897 bis 1914. Eine Quellensammlung. Berlin 1997
  • Literatur: Zeitschrift manuscript cultures Nr. 16, Ausstellungskatalog „Farbe trifft Landkarte - Colour meets map“, 2021, Centre for the Study of Manuscript Cultures der Universität Hamburg www.csmc.uni-hamburg.de 2021; Gert Kaster, Stadtarchiv Qingdao, Die Vogelschaupläne von Tsingtau, Kiel, 2017; Charlotte Ming, Unter deutschen Dächern, taz 28.01.2023  https://taz.de/Archiv-Suche/!5908989&s=tsingtao&SuchRahmen=Print

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